Geschäftsbericht der Strassenbahn Bielefeld für das Jahr 1905



Jahres-Bericht über das Gaswerk, das Elektrizitätswerk und die Strassenbahn der Stadt Bielefeld
Erstattet von Direktor C. Brüggemann
für die Zeit vom 1. April 1905 bis 31. März 1906.


Strassenbahn (5. Berichtsjahr)

Die wirtschaftlichen Ergebnisse der Strassenbahn sind im verflossenen Betriebsjahr durch die im Mai des Jahres (1905) eingeführte Tarifänderung beeinflusst.

Eine Tarifänderung, die im wesentlichen eine Erhöhung der Fahrpreise bringt, wie die im vergangenen Mai hier eingeführte, ruft erfahrungsgemäß immer eine starke Missstimmung hervor, die zur Folge hat, dass der Verkehr zunächst stark nachlässt, und dass die von der Tariferhöhung zu erwartende wirtschaftliche Besserung in der ersten Zeit nicht in Erscheinung tritt. Diese Erfahrung hat sich auch hier in den ersten Monaten nach der Tarifänderung bestätigt.

Jedoch schon im Laufe des Sommers trat eine Umgestaltung der verkehrs- und wirtschaftlichen Verhältnisse ein, die dem von der Tarifänderung erwarteten Erfolge vollkommen entsprach.

Zunächst zeigte sich auf Grund einer vor und nach der Tarifänderung ausgeführten Feststellung, dass die Umwandlung mehrerer 10 Pfennigstrecken von über 4 Kilometer Länge in 15 Pfennigstrecken eine Verkehrsverminderung nicht zur Folge hatte. Hier vermochte die Missstimmung das Publikum doch nicht zu veranlassen, wegen der 5 Pfennig Mehrkosten zu Fuss zu gehen. Die im Jahr erzielte Mehreinnahme durch die Umwandlung einiger 10 Pfennigstrecken in 15 Pfennigstrecken betrug unter Berücksichtigung des entsprechenden Ausfalls bei den 10 Pfennigstrecken 15.292 M.

Die Gesamtjahreseinnahme aus 15 Pfennigstrecken betrug 80.329 M gegenüber nur 34.454 M im Jahre vor der Tariferhöhung.

Die 20 Pfennigstrecken, für welche der neue Tarif keine Änderung brachte, lieferten auch ungefähr dasselbe Ergebnis wie im Vorjahr. Die Einnahme aus 20 Pfennig – Fahrscheinen betrug 15.508 M gegenüber 14790 M im Vorjahr.

Beim Bartarif zeigten sich die Folgen der Missstimmung der Tariferhöhung bzw. der Streckenverkürzung naturgemäss am meisten und zwar besonders in der ersten Zeit in der Abnahme der Fahrten auf den 10 Pfennigstrecken, weil hier die mit der Bekundung der Missstimmung verbundene Unannehmlichkeit zu Fuss gehen zu müssen für das Publikum am geringsten war.

Die Einnahme aus 10 Pfennig-Fahrscheinen ist unter Berücksichtigung des entsprechenden Ausfalls durch die Umwandlung einiger 10 Pfennigstrecken in 15 Pfennigstrecken um 6.648 M hinter der vorjährigen zurückgeblieben.

Insgesamt betrug die Einnahme nach dem Bartarif 296.792 M gegenüber 287.431 M im Vorjahr.

Trotz der Missstimmung, die durch die Tarifänderung herbeigeführt wurde, und trotzdem die Witterungsverhältnisse im verflossenen Jahr für die Ergebnisse der Strassenbahn viel ungünstiger waren als im Vorjahre, wurde nach dem Bartarif also doch schon eine Mehreinnahme von 9.361 M erzielt.

Am meisten machte sich der Einfluss der Tarifänderung beim Arbeiterverkehr bemerkbar. Beim früheren Tarif wurden Nummerkarten ausgegeben, die zu 20 Fahrten auf beliebig langer Strecke bis zu 9,2 km berechtigten. Die Fahrten konnten in der Zeit bis zum Ende des auf die Ausgabe folgenden Monats abgefahren werden. Die Gültigkeitsdauer der Karten betrug also bis zu 2 Monaten. Die Karte kostete 1 M, die einzelne Fahrt also 5 Pfg. Eine Einschränkung bezüglich der Benutzungszeit innerhalb der Gültigkeitsdauer bestand nicht.

Bei diesen Bestimmungen war der Tarif nichts anderes als ein 5 Pfennig-Einzeltarif für Schüler oder Arbeiter oder vielmehr für jeden, der in Arbeitskleidung die Bahn benutzte, denn bei den über 3000 Arbeiterkarten, die ausgegeben waren, war eine genaue Prüfung einer Berechtigung zur Benutzung derselben ganz ausgeschlossen. Missbräuchliche Benutzungen kamen deshalb auch sehr häufig vor.

Die nachteiligsten Folgen dieses Tarifs waren die, dass zu Zeiten des starken Arbeiterverkehrs und besonders bei ungünstiger Witterung trotz Aufbietung aller technisch möglichen Mittel der Verkehr nicht bewältigt werden konnte, und dass das sonst bar zahlende Publikum zu Zeiten des Arbeiterverkehrs die Bahn nicht benutzen konnte, weil die Arbeiter, die für 5 Pfennig jede beliebige Strecke fahren durften, meist schon vor den Haupthaltestellen und Zahlgrenzen die Wagen besetzten.

Diesen Missständen, die auch für die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens sehr nachteilig waren, hat der neue Tarif ein Ende gemacht, wobei jedoch die berechtigten Forderungen, die an eine Arbeiterbeförderung in einer Industriestadt gestellt werden können, in jeder Hinsicht volle Berücksichtigung fanden.

Die an Stelle der früheren Nummerkarten eingeführten Wochenkarten werden für 1 bis 4 tägliche Fahrten ausgegeben. Jede Fahrt für eine beliebige Strecke kostet jetzt 6 ⅔ bis 6 ¼ Pfg je nach der Zahl der täglichen Fahrten. Die Preiserhöhung von höchstens 1 ⅔ Pfg für eine Fahrt war bei der Änderung weniger von Bedeutung als die Bedingung, dass jetzt die Fahrten regelmäßig und zwar mindestens eine Fahrt im Tag gemacht werden müssen, während früher unter Umständen nur auf jeden dritten Tag eine Fahrt kam. Anfänglich ist zwar der Arbeiterverkehr ganz bedeutend zurückgegangen; die Zahl der Fahrgäste, die im Monat vor der Tarifänderung 51.260 betrug, war im Monat nachher auf 13.626 gesunken. Bis zu Ende des Berichtsjahres, als die Missstimmung nachgelassen hatte und die Arbeiter einsahen, dass der neue Tarif durchaus allen gerechten Forderungen entspricht und zu den günstigsten Arbeitertarifen bei Strassenbahnen gehört, hatte sich der Verkehr allmählich wieder gehoben, und die Zahl der Fahrgäste, die Schüler- und Arbeiterkarten benutzten, betrug im Monat Märzschon wieder 28.452, also über die Hälfte des Verkehrs vor der Tarifänderung. Bei dieser verkehrsstärke ist jedoch von den früheren Missständen, die der Arbeiterverkehr brachte, infolge der durch den neuen Tarif bedingten Regelmäßigkeit in der Benutzung der Bahn auch nicht das geringste mehr zu merken., und der Verkehr kann auf das Doppelte anwachsen und die frühere Stärke sogar übersteigen, ohne dass die damaligen Missstände wiederkehren können.

Bezüglich der Monatskarten, deren Preis um 1 M erhöht wurde, hat die Tarifänderung keine nennenswerten Unterschiede gebracht. Die Monatskarten sind für das Gesamtergebnis überhaupt ohne wesentliche Bedeutung. Im Anfang nach der Änderung ist der Bezug auch etwas zurückgegangen; er hat aber zu Ende des Jahres die frühere Höhe wieder erreicht.

Die Gesamt-Einnahmen betrugen 336.986,33 M, die Gesamt-Ausgaben betrugen 259.025,34 M, sodass sich ein Betriebsüberschuss ergibt von 77.960,79 M gegenüber 79.100,29 M im Vorjahre.

Dieses Ergebnis lässt unter Berücksichtigung des Voranstehenden zwar schon erkennen, dass der von der Tarifänderung erwartete Erfolg in jeder Hinsicht erzielt wird. Ein endgültiges Urteil soll jedoch erst im nächsten Jahr darüber abgegeben werden. Nach den bis jetzt vorliegenden Ergebnissen der ersten drei Monate des neuen Betriebsjahres werden die Einnahmen ganz erheblich höher werden, als sie vor der Tarifänderung waren, während die Betriebsausgaben infolge des geregelten Arbeiterverkehrs niedriger sein werden.

Um einen genügenden Vorrat an Betriebsmitteln zu schaffen, damit die laufenden Revisionsarbeiten zweckmässig ausgeführt werden können, wurde der Wagenpark um 3 Motor- und 2 Anhängewagen vermehrt.

Gleichzeitig wurde der Umbau der Werkstätte vorgenommen; für die Lackiererei wurde ein besonderer Neubau errichtet, dessen Keller aus Lagerräumen für die Werkstätte und Wascheinrichtungen für die Mannschaften ein Zimmer für den Bahnmeister enthält, während im alten Gebäude die Schreinerei, ein Mannschaftsraum und Meisterzimmer neu eingerichtet wurden.

Der Betrieb hat sich günstig entwickelt; erhebliche Störungen und Unfälle kamen im Betriebsjahre nicht vor.

Über den jetzigen Stand des Unternehmens sowie die Betriebs- und wirtschaftlichen Ergebnisse geben die nachfolgenden Zusammenstellungen weitere Auskunft.


Statistische Daten (in Auswahl):

Stand des Bahnunternehmens am 1.4.1906 am 1.4.1905
Gesamte Streckenlänge in km 13,17 13,17
Eingleisige Streckenlänge in km 7,77 7,77
Doppelgleisige Streckenlänge in km 5,40 5,40
Gesamte Gleislänge in km 18,57 18,57
Anzahl der Motorwagen 24 21
Anzahl der Anhängewagen 13 11
Anzahl Elektromotoren 48 42
Anschlusswert der Elektromotoren in KW 735,90 625,50
Anschlusswert der Beleuchtung in KW 17,60 15,24
Gesamter Anschlusswert in KW 733,50 640,74



Quelle: Jahres-Bericht über das Gaswerk, das Elektrizitätswerk und die Strassenbahn der Stadt Bielefeld für die Zeit vom 1. April 1905 bis 31. März 1906. Erstattet von Direktor C. Brüggemann, Seite 37-48 (Stadtarchiv Bielefeld). Die Angaben in Klammern wurden zum besseren Verständnis ergänzt.

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